Beijing – 3rd Ring Rd. SE

Das Foto soll nicht bestechen, denke ich als Erstes, als sich dieses hier nach dem Einsetzen aus meinem vorbereiteten Ordner inmitten meines neuen, noch wild nach vorne euphorisch strömenden Textes öffnet. Aber dieses hier scheint bestechen zu wollen. Was für ein Quatsch. Das Foto kann nichts wollen. Ich projeziere mein Wollen in das Foto hinein.

In Peking laufen die großen Ringstraßen im Kreis um das Zentrum. Der Zweite Ring genannte erste Kreisstraße umzirkelt in einem Radius von vielleicht drei Kilometern die Verbotene Stadt. In weiteren Schichten folgen der Dritte, Vierte, Fünfte und Sechste Ring. An den großen Ringstraßen, die breite Stadtautobahnen sind und für Menschen schwierige Schneisen darstellen, liegen gewaltige Wohn- und Büroblockhäuser, die keinen Grund hätten, sich der Ringstraße hin zu öffnen. Aber auch sonst ist ja das Öffnen nicht die Sache des chinesischen Wohnens, zumal des städtischen. Die Grenze, die Abgrenzung, die Mauer, das Mauern sind eher spontane Gesten des Wohnens. Insofern ist das abgebildete Gebäude keine Ausnahme. Aber auch noch nach vielen Jahren schrecke ich zurück vor dem massenhaften Wohnen, das sich in solchen Fassaden abzeichnet. Es kann nur unpersönlich sein und zugleich ist das natürlich ein verrückter Gedanke, der auch abwegig ist. Die Gleichförmigkeit der Fenster, die Balkon- und Austrittslosigkeit, dafür die Klimaanlagenentlüftungen, die für die drückend schwülwarmen unendlich langen Sommer stehen. Darüber der Himmel wie eine Drohung. Alles ist hier Drohung. Beunruhigung. Wie kann ein Mensch von einer Existenz hinter dergleichen unwünschbarer Fassade erlöst werden?

Aber hattest du nicht gesagt, du sehest hier einen literarischen Ort? Wie das?

Und doch, ja, ich hätte fast vergessen, dies hinzufügen, zu sehr hatte mich das Bedrückende der Fassade hinfortgetragen, und doch ist ja das wuchtige Gebäude ein Versammlungsort von Menschen, hinter jedem Fenster ein Gesicht zuweilen, Augen, die hinausschauen, ob die Sonne noch da ist, und die zumindest ahnen dürfen, dass ein anderes Augenpaar aus dem Apartment unter oder über seinem in diesem Moment … den gleichen Himmel oder sogar denselben Mond erblickt. Und dies parallele Sehen, Fühlen und Wissen ist ein poetisches Moment, wie in einem Gedicht wird hier ein Reim oder ein sich im Wiederholen einschwingendes Metrum erlebbar, und so will ich endlich schließen hier, indem ich dem Bild oder dem Abgebildeten einen für heute gültigen Titel verleihe: Melancholisches Gedicht in zwölf Versen oder so.