Also heute hatte ich ganz andere Gedanken als gestern. Zum ersten Mal in letzter Zeit. – Was für ein Blödsinn, schaltet sich schon nach dem zweiten kurzen allzu kurzen Satz meine Monologie-Bewertungsinstanz ein, die ich noch nie auch nur annähernd zu lokalisieren vermochte: Ich weiß nicht, wo sie sitzt, ich weiß nicht, was sie (von mir) will, sie tut so, als ginge es ihr um die Wahrheit und die Verständlichkeit also Weitersagbarkeit ohne Verluste, aber das habe ich alles längst durchleuchtet, gegen die Wand gestellt und seitdem stehe ich mit gegrätschten Beinen wie bei Goya vor jener Instanz und werde sie womöglich für den Rest meines Lebens in dieser Stellung in Schach halten, aber, auch deshalb, weil ich sie ja nicht sehe und also gar nicht wissen könnte, erschösse ich sie, ob sie überhaupt tot sein könnte und zum Sterben fähig, sollte ich besser einfach loslegen und losschreiben, denke ich. – Aber hat sie denn gesagt, warum hatte sie dich überhaupt zum Einhalten gedrängt, du warst doch gerade in Fahrt gekommen, in die Fahrt des Schreibens, und dann hörtest du gleich, zu früh allzu früh, wieder auf, ihr Einwand muss dich doch abgehalten haben weiterzumachen, muss dir doch zugesetzt haben und dir die Lust oder Motivation am Weitermachen genommen haben. Also, was hatte sie einzuwenden? – Sie lächelte höhnisch hyänisch und hielt mir vor, dass ich noch nichts gesagt hatte und schon vier Zeitbegriffe verwendet hätte, und genau das sei schon genug, um besser für immer zu schweigen, denn nur von heute und gestern, jetzt und gleich zu sprechen, das sei schließlich das Kreuz unserer Zeit und die Grundlage aller heute verzapften Texte, alles, was heute versprachlicht, verräumlicht, verpodcastes und hinausposaunt werde, rufe immer und vor allem eine zeitliche Ordnung hervor, der alles zugrunde liege, und wenn du dich (sie zu mir: sie duzt mich seit kurzem, was mich zusätzlich irritiert) da einreihst und nichts außerdem zu sagen hast, so bedeutet das deutlicher als die Deutlichkeit des Tags gegenüber der Nacht, dass du dem allgemeinen Brouillon nichts hinzuzufügen hast. Also schwieg ich.

Aber jetzt unterbreche ich mein schweigen, um doch hier in dieses Merkheft einzutragen, was ich gerade als Zeitvertreib, der sinnvoll wäre, mir vorstellte zu tun: Ich würde die Namen aller Menschen, mit denen ich in meinem Leben zu tun hatte, versuchen namentlich zu erinnern und in eine Namensliste zu verwandeln, dabei würde ich heute anfangen bei Emilie und Lorenzo, die ich heute oder gestern kennengelernt hatte übrigens aus interessanten und erzählenswerten Zufälligkeiten heraus, um dann weiter in zurückzugehen und über die selbstverständlichen Begleitmenschen hinaus in die Tiefe zu den früher Wichtigen, dann aber Zurückgebliebenen zu gelangen. Die Zahl eintausend erschien mir spontan vor dem inneren Auge (nicht vor jener Instanz, die erstaunlich ruhig und unintrusiv blieb) und eine sportliche Idee entstand sofort: Würde ich auf eintausend Namen kommen. Let´s try it? But maybe later!
Wenn man einen Gedanken, den man für aufschreibenswert hält, nicht sogleich aufschreibt, sondern seine Niederschrift für nach dem Aufwachen aufschiebt, hat man ihn schon verloren. Einen solchen Gedanken wieder zurückzuholen aus dem Verschwinden gelingt fast niemals. Ich habe mir angewöhnt, einen solchen für aufschreibenswert gehaltenen Gedanken, den ich nicht aufschreiben kann im Moment, im Kopf hin und her zu wenden, ihn von verschiedenen Seiten aus zu betrachten und ihn mit Nachdruck zu denken und wiederholt, weil ich weiß, dass es in diesem Fall etwas wahrscheinlicher wird, dass ich mich später wieder an ihn erinnere. Walter Benjamin hat als eine zentrale seiner Thesen des Schriftstellers formuliert: „Laß dir keinen Gedanken inkognito passieren und führe dein Notizheft so streng wie die Behörde das Fremdenregister.“ Ich kaufe ihm die in dieser makellosen Prosa formulierte Tatsache als Weisheit nicht nur glatt ab; ich bewundere darin auch die Eleganz und den Witz, beides Eigenschaften geschriebener Sprache, die den in ihr enthaltenen Gedanken einprägsamer bewahren und leichter erinnern lassen.